Häusliche Gewalt: nach dem Leiden folgt oft die Psychiatrie
—- AUS AKTUELLEM ANLASS AKTUALISIERT —-
Wenn eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau sich in stationäre Behandlung, meist in Psychsomatischen Kliniken, teilweise aber auch in die Psychiatrie, begibt hat das immer ein bisschen was von Russischem Roulette. Mit dem Unterschied, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs von Waffe vs. Schläfe sehr viel höher ist: Es gibt durchaus einige psychosomatische Kliniken und Psychiatrien die von Betroffenen als lebensrettend beschrieben werden. Im Zusammenhang mit „stationärem Aufenthalt“ taucht dennoch zu oft das Wort „Retraumatisierung“ auf. Dazwischen gibt es noch zahlreiche Schattierungen von „gut gemeint“ bis „nix gemacht, nix gebracht“.
Dass das Thema häusliche Gewalt gerade im Bereich der stationären Intervention in der Psychiatrie einen Boost auf den Prioritätenlisten bekommen sollte, zeigt die neue Studie von Prof. Dr. phil. E. Nyberg: Häusliche Gewalt bei Frauen einer Kriseninterventionspopulation – Formen der Gewalt und Risikofaktoren.
Konzentrat: Ausmaß der Viktimisierung durch häusliche Gewalt bei Psychiatrie-Patientinnen
WAS? HINTERGRUND UND FRAGESTELLUNG
Nicht neu: Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Opfer leiden unter gesundheitlichen und psychischen Folgen. Terra incognita: Häusliche Gewalt und Psychiatrie. Nun nicht mehr.
Definition: häusliche Gewalt
Androhung oder Ausübung von physischer, psychischer und/oder emotionaler Gewalt, d. h. jede Form von Zwangsanwendung gegenüber einer anderen Person mit der Absicht, dieser Schaden zuzufügen oder Macht und Kontrolle über sie auszuüben. Dabei stammt der Täter aus dem „häuslichen Umfeld“ des Opfers: Partner, Ehemann, ehemaliger Partner, Familienangehöriger, Freund oder Bekannter. Häusliche Gewalt benennt in der Regel kein einmaliges Gewaltereignis, sondern ein komplexes Misshandlungssystem, das körperliche, psychische und sexuelle Gewalt umfassen kann²
WIE? METHODE
Screening – ein kurzes Interview – zur Erfassung sowohl der Lebenszeit- als auch der 12-Monats-Prävalenz häuslicher Gewalt. Stichprobe: Patientinnen einer Krisenstation in einer Schweizer Psychiatrie.
Diejenigen Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung in einer Partnerschaft lebten, füllten zusätzlich einen Fragebogen aus, der Ausmaß und Schweregrad von physischer, psychischer und sexueller Partnerschaftsgewalt erfasst.
[Anlässlich der wissenschaftlichen Qualität (nicht vorhanden) einer kürzlich veröffentlichten Studie (nicht wirklich) sei auf die frühere Selbstverständlichkeit hingewiesen, dass die eingesetzten Instrumente wissenschaftlichen Standards genügen].
WER? TEILNEHMERINNEN: Psychiatrie-Patientinnen
Befragt werden sollten alle Frauen, die mindestens einen Tag in der Krisenintervention der Psychiatrie in Basel hospitalisiert waren und ausreichend Deutsch sprachen. ca. 50% der Patientinnen nahmen teil. Gründe für Nichtteilnahme: Fremdsprachigkeit 19 %, Verweigerung 15 % und Unmöglichkeit (Zustand oder Aufenthalt in der Psychiatrie zu kurz). Stichprobengröße: 115 Frauen.
Kurzes Meet and Stare:
- Durchschnittsalter 38 Jahre.
- Personenstand: die Hälfte ist alleinstehend, ein Drittel seit mindestens 12 Monaten. Ein Viertel ist verheiratet, ein Fünftel geschieden oder getrenntlebend.
- Grund für Psychiatrie-Aufenthalt: Platz 1: affektive Störungen (vulgo: Depressionen). Platz 2: neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen; also Angststörungen, Störungen infolge kritischer Lebensereignisse/-umstände und psychisch bedingte körperliche Krankheiten.
Frisch aus der Anstalt: Zahlen aus der Psychiatrie
HÄUFIGKEITEN HÄUSLICHER GEWALT
Zwei freundliche Hinweise:
- Legen Sie eine Hand unter Ihr Kinn.
- Ihre Mimik von heute ist Ihr Gesicht von morgen.
You have been warned.
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A |
B |
C |
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Lebenszeitprävalenz |
70% |
10-35% (Schröttle-Studie) |
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12-Monatsprävalenz |
41% |
2% |
bis 14% |
Psychiatrie. Das Elend in Worten.
- mehr als zwei Drittel der – im Durchschnitt 38jährigen – Teilnehmerinnen hatten bereits körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner bzw. ex-Partner erfahren.
- über ein Drittel der Teilnehmerinnen war in den vergangenen 12 Monaten Opfer häuslicher Gewalt.
psychische Gewalt: 28%
körperliche Gewalt: 18%
sexualisierte Gewalt: 7%
- [Die Differenz zu den o.g. 41% ergibt sich dadurch, dass min. eine der fünf Screening-Fragen mit Ja beantwortet wurde, darunter auch die Frage, ob die Teilnehmerin ihren derzeitigen oder ehemaligen Partner fürchtet].
- Bei 11% der Befragten war häusliche Gewalt einer der Gründe für den stationären Aufenthalt in der Psychiatrie. 19% gaben an aufgrund häuslicher Gewalt in der Vergangenheit stationär behandelt worden zu sein.
HONEY, I’M HOME: BEZIEHUNGSLEBEN nach der Psychiatrie
38% der aktuell in einer Partnerschaft lebendenen Teilnehmerinnen täten gut daran, einen wirkungsvollen „Dear John“ (Schluss-Mach-Brief) zu verfassen: gemäß ihres ISA-Wertes sind sie eindeutig als gewaltbetroffen einzuordnen:
- 32% werden vor anderen Menschen beleidigt oder gedemütigt.
- 23% erleben sexuelle Gewalt: Täter verlangt Sex, auch gegen den Willen der Frau.
- 19% werden mit Fäusten geschlagen.
- 19% werden ins Gesicht oder am Kopf geschlagen.
- 15% der Täter vermitteln durch ihr Verhalten Tötungsabsichten.
TYL – TODAY YOU LEARNED:
„Häusliche Gewalt ist ein häufiges Problem bei Patientinnen einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Im Bereich der Krisenintervention und Psychiatrie sollten Patientinnen zu häuslicher Gewalt befragt werden.“
on second thought:
Häusliche Gewalt ist ein häufiges großes Problem bei Patientinnen einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Im Bereich der Krisenintervention und Psychiatrie medizinischen und familienrechtlichen Bereich sollten Patientinnen Frauen standardmäßig zu häuslicher Gewalt befragt werden.
MEHR INFOS!
- Häusliche Gewalt: Arten und Beispiele
- Gesichter der Gewalt: es muss kein blaues Auge geben
- Häusliche Gewalt – Der will doch nur prügeln | Artikel von Dunja Voos
1 Nyberg, E.; Stieglitz, R.-D.; Flury, M.; Riecher-Rössler, A. (2013): Häusliche Gewalt bei Frauen einer Kriseninterventionspopulation – Formen der Gewalt und Risikofaktoren. In: Fortschr Neurol Psychiatr 81 (06), S. 331–336, zuletzt geprüft am 23.07.2013.
²(Hagemann-White C. Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis. Bestandsanalyse und Perspektiven. Pfaffenweiler: Centaururs Verlagsgesellschaft; 2002)
Sterntalerin
30. August 2013 14:26Ich umarme den Autor dieses Artikels! -Genau das habe ich erlebt und ich bin froh, dass manche erkennen, dass dort eben nicht geholfen wird. Danke.
Es beginnt schon weit vorher – man steht an der Pforte der Klinik, hat eine Gedächtnislücke über die letzten 4 Jahre, ein Grauen im Kopf und im Herz und denkt dabei dauernd: „aber das ist doch nicht richtig. Da draußen läuft ein „Verbrecher“ frei und fröhlich herum, ich bin nur das Opfer.“
Nach 1 Woche, in der ich 1 mal 30 min eine Therapeuthin sah (Erklärung Verhaltensvorschriften, keine Drogen und so Zeugs) und nicht sprechen konnte und furchtbare Flashbacks erlebe, ging ich zu der Dame und bat um Hinweis, wie denn behandelt wird.
Antwort: „Es gibt für häusliche Gewalt keine Behandlung. Die Ursachen dafür wurzeln in der Kindheit und das muss angeschaut werden.“ – Daraufhin ich: „Wenn hier eine junge Frau vorbeiläuft, mit langem Mantel, und sie wird zig Mal hinterrücks überfallen, vergewaltigt, – immer wieder , – dann sagen Sie, die Ursachen liegen in der Kindheit.“ – „Nein, so meinte sie das auch nicht. Aber es gibt keine Therapie und im übrigen sind wird doch 6 Personen hier auf der Station, leben WG-ähnlich, das ist Therapie“. Die anderen Personen hatten Burn-Out, schwere Depression wegen anderer Geschichten, die sie sich alle nicht freiwillig ausgesucht hatten, sondern ihnen das Leben auch zugeteilt hatte.
— Eine solche Aussage einer Therapeuthin in einer Klinik, Abteilung PTBS und Depression, halte ich für eine Ohrfeige ins Gesicht jedes Opfer wo-immer auf dieser Welt und für mehr als ein Eingeständnis des kompletten Versagens eines Berufs. Das Schlimmste für das Opfer: An so viele Türen, die Hilfe versprechen oder sich das angeblich zum Beruf gemacht haben, geklopft. Mit letzer Kraft, immer allein. Die Antwort: „besetzt, voll, tut uns leid, erst in 9 Monaten, – ja, wenn sie privat bezahlen. Und dann, wenn man es geschafft hat: Nun, das liegt in ihrer Kindheit, selber schuld!
Sterntalerin
re-empowerment
24. Juli 2013 20:39Hi Leisha, danke! ich glaube, ich habe noch nie einen so nüchternen, distanzierten Text zu dem Thema geschrieben. Aber so langsamt breitet sich gesund Outrage in mir aus. Insbesondere wenn ich dann an Berichte betroffener Frauen denke, und darüber, was diese sich allesamt in Kliniken anhören durften. Übel.
Leisha
24. Juli 2013 18:34Wunderbar! Diesen Text sollte jeder Psychiater lesen.