Seine Welt dreht sich um Macht. Ihre nur um ihn.
Patricia Evans unterscheidet in ihrem Buch „Worte die wie Schläge sind“ zwei grundsätzliche Arten von Macht (Power): Power Over und Personal Power.
Power Over entspricht der Macht, die daraus entsteht, Macht über einen oder mehrere Menschen zu haben. Hierdurch entsteht ein Machtgefälle: Einer ist „oben“ – Power Over – der andere ist „unten“ und wird quasi beherrscht.
Dem entgegen steht Personal Power: die macht, die von innen kommt, Eigenmacht, die aus der eigenen Kraft stemmt.
Menschen haben unterschiedliche Auffassungen über/ Erfahrungen mit Macht. Es gibt Menschen, die können sich nur „bevollmächtigt“ und stark fühlen, wenn sie Power Over haben, und andere Menschen beherrschen. Für diese Menschen ist es beinahe lebenswichtig, andere Menschen unter ihrer Kontrolle zu haben.
Power Over ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet und vor allem weitläufig akzeptiert. Die Frage, ob dieses Konzept in Beruf oder Politik wirklich angemessen ist, mögen andere Menschen für sich beantworten. Wird dieses Konzept allerdings aktiv in einer Beziehung angewandt, dann ist die natürliche Folge, dass ein Teil der Beziehung „oben“ ist, und der andere „unten“.
Dies mag vielleicht sogar einem traditionelleren Bild von Beziehungen entsprechen, und es gibt sicherlich Beziehungsformen, in denen Power Over gelebt wird, entweder ein- oder wechselseitig.
In einer Gewaltbeziehung / missbräuchlichen Beziehung wird Power Over allerdings i.d.R. derart gelebt, dass der Täter ständig „oben“ ist oder zu sein versucht, und hierfür jedes verfügbare Mittel angewandt wird.
Dahingegen bedeutet Personal Power innerhalb einer Beziehung, eine geteilte Macht, die jeweils aus dem Inneren der Partner kommt. Ein Prinzip der Gegenseitigkeit: gegenseitige Hilfe, gegenseitige Unterstützung, gegenseitige Gewährung der für die Entwicklung benötigten Räume und Freiheiten.
Die wenigsten Menschen wachsen mit einem Gefühl von Personal Power auf, in unserer Gesellschaft werden Kinder vornehmlich durch Power Over geprägt, erzogen und manchmal gebrochen. Personal Power ist ein Konzept, das Menschen oft erst später in ihrem Leben erleben und erlernen dürfen.
Herrschende Machtprinzipien in Misshandlungsbeziehungen
In einer Gewaltbeziehung besteht i.d.R. eine der folgenden beiden Konstellationen:
Täter und Opfer leben, handeln und denken nach dem Power Over Prinzip. Der Täter ist „oben“ und hat Power Over seine Partnerin, die sich mit diesen Umständen abgefunden hat. Wahrscheinlich hat sie es letztendlich nie langfristig anders erlebt.
Der Tätger lebt, handelt und denkt nach dem Power Over Prinzip, das Opfer hingegen nach dem Personal Power Prinzip. Allerdings ist dieses Prinzip in der Partnerin noch nicht komplett manifestiert, u.U. deshalb, weil sie in einer Power Over Umgebung aufgewachsen ist, und diese noch nicht überwunden hat.
Und genau an dieser Stelle wird es problematisch. Nicht nur leben beide Partner nach anderen Grundprinzipien, man kann beinahe behaupten, dass beide Partner in unterschiedlichen Realitäten leben. Um dies zu verdeutlichen, möge man annehmen, dass der Täter in Realität I (RI – Power Over) und seine Partnerin in Realität II (RII – Personal Power) lebt.
In RI ist das Ziel, Macht über den anderen zu erlangen, zu gewinnen, sich durchzusetzen und letztendlich am längeren Hebel zu sitzen. Menschen, die sich in RII befinden, verfolgen hingegen hauptsächlich zwei Ziele: Ko-operation und ein Miteinander, in dem sich beide wohlfühlen.
RI und RII unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich der verfolgten Ziele, der Unterschied erstreckt sich auf fast alle Bereiche des Miteinanders in einer Beziehung: Kommunikation, Konflikte, Pläne, Entwicklung, Sexualität uvm.
Langfristig (oder doch generell?) ist in einer Paarbeziehung kein Platz für zwei Realitäten. Es ist auch schwierig, mit einem Menschen zu kommunizieren, geschweige denn zu reden, dessen Realität eine völlig andere ist.
Vielleicht kommen Dir die Sätze „Du bist völlig realitätsfremd“, „Du bist verrückt / krank“, „Du lebst in einer anderen Welt“ bekannt vor. – Und wahrscheinlich waren dies nicht einmal Spinnereien eines missbräuchlichen Partners, sondern entsprangen vielmehr dem Umstand, dass Ihr tatsächlich in unterschiedlichen Realitäten lebt.